Martfelder Legenden
"Kunst fürs Dorf - Dörfer für Kunst" 2011 in Niedersachsen
Jedes Dorf hat Legenden. Man muss sie nur erzählen und weitergeben, damit sie nicht verloren gehen. Legenden sind faszinierend. Sie geben einem Ort eine besondere Wirkung, wo etwas ungewöhnliches passiert ist, ein Vorkommnis, eine Geschichte oder Begebenheit. Jeder Ort hat viele davon. Aber: der Schleier des Vergessens legt sich über die meisten.
Wussten Sie, dass der Schauspieler Friedrich Joloff (Oberst Villa aus der "Raumpatrouille" Raumschiff Orion) seinen Lebensabend in Martfeld verbrachte und auf dem hiesigen Friedhof begraben ist? Ist Ihnen bekannt, dass es Überlegungen gab, Martfeld um 1913 mit einem Bahnhof auszustatten? Wussten Sie, dass "damals" in der alten Gaststätte Dunekack regelmäßig Operettenabende abgehalten wurden (der "Operettenweg" erinnert noch daran)? Kennen Sie die Geschichte vom sich vor der Wirtin der (heutigen) "Kastanie" verneigenden Eber? Kennen Sie Jan "Foto", der Martfeld in vielen Fotos dokumentiert hat? Und natürlich "Tante Lotti" (Charlotte Homfeld), die viele Schriften zur Volkskunde und insbesondere zur Ernährung auf dem Lande erstellt hat und nun - ähnlich wie auf dem Times Square in New York - in Martfeld mit Ihren Texten in einem LED-Laufband an der Hauptstraße verewigt ist?
Martfeld hat angefangen, seine Legenden zu thematisieren. Und zwar künstlerisch. Wie hat das angefangen?
Mit einem Antrag und einer Projektbeschreibung:
Projektantrag der Gemeinde Martfeld
"Die ewige Jugend muss dort sein, wo die Zeit stehen geblieben ist!“
Martfeld in Fakten:
Der Ort wurde im Jahre 1179 erstmals in einer päpstlichen Urkunde erwähnt, die Papst Alexander III. persönlich unterschrieben hat. Die im Schriftstück erwähnte Hofstelle CURTIS in MERDVELDE cum CAPELLA et PERTINENTIIS SUIS ..." (übersetzt: "Hof in Martfeld mit Kapelle und Zubehör") mit ihrem angrenzenden Weideland und Wald (dem "Echterkamp") bestimmt noch heute das Bild des Ortskerns. Die Gemeinde Martfeld wurde im Zuge der Gebietsreform im Jahr 1973 durch Zusammenschluss der bis dahin selbständigen Gemeinden Martfeld, Hustedt und Kleinenborstel gebildet. Sie ist eine Mitgliedsgemeinde der Samtgemeinde Bruchhausen-Vilsen.
Das Gemeindegebiet von Martfeld ist 35,06 qkm groß und auf dieser Fläche leben 2.852 Einwohner. Der zentrale Ort Martfeld ist mit über 1.800 Einwohnern die größte zusammenhängende Ortslage und hier konzentrieren sich die Einrichtungen des Handels und der Dienstleistungen, die in ihrer Qualität und in dem Sortiment weit über das Angebot ländlicher Gemeinden hinausgehen. Fachgeschäfte ergänzen die zur Deckung des täglichen Bedarfs notwendigen Einrichtungen. Dieses wird auch durch die hohe Zahl von 237 Gewerbeanmeldungen dokumentiert.
Die Gemeinde Martfeld liegt ca. 40 km vom Oberzentrum Bremen und rund 25 km entfernt von den Mittelzentren Verden und Syke im Nordosten des Landkreises Diepholz. Die Entfernung zu dem Grundzentrum und Zentralort Bruchhausen-Vilsen beträgt in südlicher Richtung ca. 9 km.
Die Gemeinde hat neben günstigen Baugrundstücken, ein breites Spektrum an Versorgungseinrichtungen, ein reichhaltiges Freizeitangebot, sehr gut entwickelte kulturelle Aktivitäten und ein lebendiges Vereinsleben zu bieten.
Auf diesen Ressourcen aufbauend hat der Rat in seiner Sitzung am 28. September 2010 beschlossen, sich an dem Wettbewerb "Kunst fürs Dorf – Dörfer für Kunst" zu beteiligen und die erforderlichen Gelder für die Bereitstellung von Wohnung und Atelier in den Haushalt einzustellen, in dem Bewusstsein, dass diese Bewerbung von den Einwohnerinnen und Einwohnern aktiv unterstützt und begleitet wird.
Dem Leitspruch "Von der Dorfkultur zum Kulturdorf" fühlt sich die Gemeinde Martfeld seit über 20 Jahren verpflichtet. 2008 beschloss der Rat der Gemeinde Martfeld "Grundsätze zur Kulturpolitik", um ihrem Willen Ausdruck zu verleihen, die Kulturarbeit umfassend zu fördern. Noch im selben Jahr wurde die Kulturplattform, als Bündnis von Kulturschaffenden, Künstlerinnen, Künstlern und weiteren Interessierten geschaffen. Über die Mitarbeit bei dem Verein Kunst und Kultur (KuK) unserer Samtgemeinde Bruchhausen-Vilsen findet auch reger Austausch über die Gemeindegrenzen hinweg statt.
Initiativen von Privatpersonen und Vereinen hat es Martfeld zu verdanken, dass viele kulturelle Veranstaltungen auch mit überregionaler Ausstrahlung stattfinden. "Loger Musiktage", "Sommerklang im Echterkamp", "Mühle-Hof-Garten", jährliche plattdeutsche Theateraufführungen, Kinder- und Jugendtheater und -tanzgruppen, die "Kastanie" mit Restaurant und Kleinkunstbühne, Film- und Kunsthof von der Thüsen, Puppenmuseum, Galerie im Brinksitz u.a. sind hier zu nennen.
Eine besondere Rolle spielen Künstlerinnen und Künstler, die in Martfeld wohnen und hier ihre Ateliers betreiben. Wir finden ihre Werke auf Ausstellungen und in Galerien im nationalen und internationalen Rahmen. Beispielhaft sind folgende Martfelder Künstlerinnen und Künstler zu nennen:
ADAM, Ulrike Göllner, Freya Minkmar, Dieter Begemann, Dietmar Brandstätter. Einige Kunstwerke der heimischen Künstler sind auch in Gärten oder auf Höfen in Martfeld zu sehen.
Von Anfang an dabei: Die Bürgerinnen und Bürger
Unter Federführung der Bürgermeisterin haben sich schon an der Entwicklung und Abstimmung des Konzeptes die Mitglieder des Gemeinderates, die Kulturplattform, einzelne Künstlerinnen und Künstler, viele Vereinsvorsitzende, der Kirchenvorstand, die Leiterin des Kindergartens, die Gemeinschaft der Selbstständigen als Vertreterin der Betriebe und die Gemeindeverwaltung aktiv beteiligt. Diese Versammlung hat beschlossen, bei Zuschlag durch die Jury eine Projektgruppe zu bilden und einen verantwortlichen Projektleiter zu benennen. Die Projektgruppe wird das Bindeglied zwischen Künstlerin/Künstler und Bürgerinnen und Bürgern bilden und auch kontinuierlich eine Begleitung gewährleisten. Es ist vorstellbar, über eine Projektgruppe hinaus die Partizipation der Bürgerinnen und Bürger in verschiedenen Formen durchzuführen:
- über die Einrichtungen, wie Kindergarten, Schule, Jugendhaus, Seniorenheim,Kirchengemeinde, wobei ein Schwerpunkt die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sein könnte,
- über die Vereine (HVV, Sportverein, Schützenverein, DRK, u.a.),
- und über dörfliche Veranstaltungen, die in der Zeit von März bis Oktober stattfinden.
Die Einbeziehung der heimischen Künstler ist im Projektverlauf selbst zu klären, eine Bereitschaft der Mitarbeit ist bereits signalisiert worden.
Im Einzelnen ist geplant zur Begrüßung der Künstlerin oder des Künstlers ein kleines Fest zu veranstalten. Neben einer Führung durch den Ort, einer anschließenden "Tour d’Atelier" wird es in der "Kastanie" bei einem regional inspirierten Menü szenische Darstellungen des Themas geben.
Die Zusammenarbeit für die nächsten Monate kann dann konkret geklärt werden. Die Verantwortlichkeiten auf Seiten der Gemeinde und die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, sich aktiv einzubringen, sind gewährleistet.
Projektbeschreibung
Die ewige Jugend muss dort sein, wo die Zeit stehen geblieben ist!
Warum sollte in Martfeld nicht ein Sommermärchen 2011 geschrieben werden? Es war einmal vor mehr als tausend Jahren als ein großer deutscher Kaiser in schon hohem Alter eine Versammlung in Verden abhielt. Auch diesmal wurde er, wie in den letzten Jahren des Öfteren mal wieder von seiner Gicht geplagt. Der Gelenkschmerzen überdrüssig blickte er mit missmutigem Gesicht zu seinem Leibarzt und sagte: "Gibt es kein Kraut, das mich zurückführt in die Jahre, in denen ich den Zweihänder noch führen konnte und tanzend so manchen Kummer vergessen konnte?" Sein Leibarzt, der sich nicht nur auf das Heilen mit Kräutern und Salben verstand, blickte über die Weser in Richtung Martfeld und gab folgenden tiefgründigen Satz von sich:
"Die ewige Jugend muss dort sein, wo die Zeit stehen geblieben ist!"
Der Kaiser war gewohnt nach solchen Sätzen seines Arztes nicht nachzufragen, denn der Leibarzt verfiel nach ähnlichen Äußerungen oft wochenlang in Schweigen. Was ihm blieb war ein Blick über die Weser. Ob er sich entschieden hat und die Weser überquerte, um nach Martfeld zu ziehen, wissen wir nicht. Ob Martfeld der Ort ist, an dem sich ewige Jugend und stehen gebliebene Zeit treffen, wissen wir auch nicht.
Die Martfelderinnen und Martfelder wissen, dass beide Aussagen für sich, wie auch in dem oben beschriebenen Verhältnis nicht stimmen können. Trotzdem wird die ewige Jugend gesucht und die stehen gebliebene Zeit konstatiert – Motor dafür ist eine menschliche Sehnsucht, die sich über Generationen und Kulturen über Jahrtausende hält. Mit dieser Sehnsucht im Gepäck wird Martfeld sich mit der Künstlerin oder dem Künstler auf den Weg machen, den Ort zu finden.
Dabei wird der Weg möglicherweise schon das Ziel darstellen. Der Weg kann sich dokumentieren in Meilensteine, die im historischen Ortskern zwischen Sophienpark und Mühle und zwischen Schule und Kirche bestimmte Abschnitte verdeutlichen, auch andere Alternativen sind realisierbar. Wir können uns in Anlehnung an ein Tagebuch (geschrieben, fotografiert, gezeichnet oder gefilmt) auch vorstellen, den Weg so zu dokumentieren.
Hervorzuheben ist an der Konzeption, dass der Weg kein Ende hat oder mit anderen Worten: Nach dem Oktober 2011 soll die Zeit nicht stehen bleiben und der Kunstpfad weitergeführt wird.
Um die kreativen Impulse der Künstlerin oder des Künstlers nicht durch zu deutliche Festlegungen einzuengen und mit zu konkreten Gestaltungswünschen möglicherweise neben den Ressourcen des Gastes zu liegen, hat die Gemeinde auf weitere Festlegungen bewusst verzichtet. Das Thema beinhaltet eine Auseinandersetzung mit dem Altwerden und dem Jungsein in einer sich fortentwickelnden dörflichen Struktur.
Die Künstlerin oder der Künstler ist herzlich willkommen
Die Gemeinde stellt vom 1. März bis zum 31.Oktober 2011 eine Wohnung und ein Atelier zur Verfügung. Eine zentral liegende 3 Zimmerwohnung, mit Küche, Bad und Balkon in der Schulstraße und ein Licht durchflutetes Atelier in der Straße Ortende mit 50 Quadratmetern in Nachbarschaft des Martfelder Jugendhauses wird hoffentlich für das künstlerische Arbeiten optimale räumliche Bedingungen schaffen.
Die Teilnahme
Uns erreichte daraufhin folgendes Schreiben:
Sehr geehrte Damen und Herren,
auf ihrer heutigen Sitzung hat die Jury die folgenden Gemeinden für die Teilnahme an unserem Projekt "Kunst fürs Dorf - Dörfer für Kunst" 2011 in Niedersachsen ausgewählt:
Drögenbostel, Stadt Visselhövede, Landkreis Rotenburg (Wümme).
Edendorf, Gemeinde Bienenbüttel, Landkreis Uelzen.
Martfeld, Samtgemeinde Bruchhausen-Vilsen, Landkreis Diepholz.
Petze, Samtgemeinde Sibbesse, Landkreis Hildesheim.
Ruhwarden, Gemeinde Butjadingen, Landkreis Wesermarsch.
Wir gratulieren Ihnen sehr und freuen uns auf eine spannende Zeit.
Mit freundlichen Grüßen
Ingrid Apel
Ingrid APEL
Geschäftsführerin Deutsche Stiftung Kulturlandschaft
Claire-Waldoff-Straße 7
10117 Berlin
Das Ergebnis:
Was ist aus der Idee Victor Kéglis zur Veranschaulichung erinnerungswürdiger Geschehnisse aus der Dorfgeschichte geworden? Nicht weniger als acht über den Ort verteilte Installationen wurden 2011 im Rahmen einer Feierstunde in der Fehsenfeldschen Mühle an die Gemeinde übergeben.
Neben den fünf alternativen Ortsschildern, welche unterschiedliche Erklärungen zur Herkunft des Namens “Martfeld” geben, und der Gedenktafel am Atelier konnten die Projekte “Tante Lottis Geschichten” (LED-Leuchtband), “Der höfliche Eber” (im Gasthof “Kastanie”), “Operettenweg”, “Hauptbahnhof Martfeld”, “Das kleinste Fotomuseum der Welt” und “Friedrich Joloff” abgeschlossen werden. Sie rufen auf sehr subtile und durchaus humorvolle Weise bemerkenswerte Tatsachen, Begebenheiten und Persönlichkeiten aus dem Gemeindeleben der letzten 100 Jahre wieder ins öffentliche Bewusstsein.
Wie der Künstler betonte, ist das Projekt “Martfelder Legenden” auf Fortsetzung angelegt. Zukünftig können sich somit weitere Künstler auf Spurensuche in der Ortschronik und im kollektiven Gedächtnis der Gemeinde begeben und weitere schöne, spannende und skurrile Geschichten zutage fördern. Dadurch kann die Kunst mit dazu beitragen, der Geschichts- und damit auch Gesichtslosigkeit der vom ländlichen Strukturwandel gebeutelten Dörfer entgegenzuwirken.
Inhalt: Dirk Aue, 15.7.2012